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author: Lao-tse, created: -400-01-01, translator: Günther Debon, translated: 1979-01-01, transcriptor: niplav, transcribed: 2019-03-23, modified: 2022-01-29, language: german, status: finished, importance: 4, confidence: transcription

The Tao Tê King is one of the most translated texts in history. This is a transcription of the german translation by Günther Debon from 1961.

Tao Tê King

Erstes Buch

Kapitel 1

§1

Könnten wir weisen den Weg,
Es wäre kein ewiger Weg.
Könnten wir nennen den Namen,
Es wäre kein ewiger Name.

§2

Was ohne Namen,
Ist Anfang von Himmel und Erde;
Was Namen hat,
Ist Mutter den zehntausend Wesen.

§3

Wahrlich:
Wer ewig ohne Begehren,
Wird das Geheimste schaun;
Wer ewig hat Begehren,
Erblickt nur seinen Saum.

§4

Diese beiden sind eins und gleich.
Hervorgetreten, sind ihre Namen verschieden.
Ihre Vereinung nennen wir mystisch.
Mystisch und abermals mystisch:
Die Pforte zu jedwedem Geheimnis.

Kapitel 2

§5

Erst seit auf Erden
Ein jeder weiß von der Schönheit des Schönen
Gibt es die Häßlichkeit;
Erst seit ein jeder weiß von der Güte des Guten,
Gibt es das Ungute

§6

Wahrlich:
Sein und Nichtsein entspringen einander;
Schwer und Leicht bedingen einander;
Lang und Kurz vermessen einander;
Hoch und Tief erzwingen einander.
Die Stimme fügt sich dem Ton im Chor;
Und ein Danach folgt dem Zuvor.

§7

Deshalb der Heilige Mensch:
Er weilt beim Geschäft des Ohne-Tun,
Er lebt die Lehre des Nicht-Redens.
Die zehntausend Wesen werden geschaffen von ihm,
doch er entzieht sich ihnen nicht.
Er zeugt, aber besitzt nicht;
Er tut, aber baut nicht darauf.
Ist das Werk vollendet, verweilt er nicht dabei.

§8

Wohl! Nur dadurch, daß er nicht verweilt,
Ist nichts, das ihm entginge.

Kapitel 3

§9

Wer nicht die Tüchtigen ehrt,
Bewirkt, daß das Volk sich nicht streitet.
Wer nicht die Güter schätzt, die schwer zu erlangen,
Bewirkt, daß das Volk nicht zu Räubern wird.
Wer nicht vorzeigt, was man begehren kann,
Bewirkt, daß des Volkes Sinn nicht aufsässig wird.

§10

Deshalb des Heiligen Menschen Regierung:
Er leert ihren Sinn
Und füllt ihren Bauch;
Er schwächt ihren Willen
Und stärkt ihre Knochen.
Ewig läßt er das Volk
Ohne Wissen, ohne Begehren
Und wirkt, daß die Klugen
Nicht wagen zu tun.

§11

Tut er das Ohne-Tun,
Ist nichts, das nicht regiert würde.

Kapitel 4

§12

Der Weg ist raumleer,
Daß im Gebrauch er niemals gefüllt wird.
Abgründig ist er, ach!
Dem Ahnherrn der zehntausend Wesen gleich.

§130

(Er schabt ab seine Schärfen,
Löst auf seine Wirren,
Beschwichtigt sein Glänzen,
Vereint seinen Staub.)

§12

Tiefgründig ist er, ach!
Und gleichsam ewig gegenwärtig.
Ich weiß nicht, wessen Sohn er ist –
Ein Bild von dem, das vor den Göttern war.

Kapitel 5

§13

Himmel und Erde sind nicht menschenfreundlich;
Sie nehmen die zehntausend Wesen für Strohhunde.
Der Heilige Mensch ist nicht menschenfreundlich;
Er nimmt die hundert Geschlechter für Strohhunde.

§14

Himmel und Erde, wie gleicht
Ihr Zwischenraum einem Blasebalg!
Er fällt nicht ein, ob noch so leer;
Je mehr bewegt, gibt aus er um so mehr.

§15

Viele Worte – manch Verlust.
Am besten, man bewahrt sie in der Brust!

Kapitel 6

§16

Unsterblich ist die Fee des Tals:
So heißt es von der Mystischen Weibheit.
Der Mystischen Weibheit Pforte:
So heißt man die Wurzel von Himmel und Erde.
Endlos wallend, gleichsam gegenwärtig.
Also wirkt sie sonder Beschwerde.

Kapitel 7

§17

Der Himmel währt ewig, und die Erde dauert.
Was aber macht, daß Himmel und Erde vermögen
Zu währen, zu dauern?
Weil sie nicht selber leben,
Darum vermögen sie, ewig zu leben.

§18

Deshalb der Heilige Mensch:
Er setzt zurück sein Selbst –
Und es wird vorne sein;
Er treibt hinaus sein Selbst –
Und sein Selbst tritt ein.

Ist das nicht, weil er ohne Eigennutz?
Darum vermag er, sein Eigen zu vollenden.

Kapitel 8

§19

Das höchste Gute gleicht dem Wasser.
Des Wassers Gutsein: Es nützt den zehntausend Wesen,
Aber macht ihnen nichts streitig;
Es weilt an Orten,
Die die Menge der Menschen verabscheut.
Darum ist es nahe dem Weg.

§20

Gut ist beim Wohnen: der Grund.
Gut ist beim Sinnen: die Tiefe.
Gut ist beim Geben: die Menschlichkeit.
Gut ist beim Reden: die Treulichkeit.
Gut ist beim Herrschen: die Ordnung.
Gut ist beim Schaffen: die Fähigkeit.
Gut beim Sich-Regen: die rechte Zeit.

§21

Wohl! Nur, wer sich nicht streitet,
Ist gegen Schmähung gefeit.

Kapitel 9

§22

[Den Becher] halten und füllen zugleich –
Besser, die ließest es sein!
[Die Klinge] betasten und schärfen zugleich –
Das dauert nicht lange!
Voll Erz und Juwelen die Halle –
Niemand kann sie bewahren.

Stolz auf Reichtum und Ehre
Schafft selber sich Unheil.
Sein Werk vollbringen
Und sich zurückziehn:
Also des Himmels Weg.

Kapitel 10

§23

Zügelnd den Leibgeist, umfangend das Ein,
Kannst ohne Fehl du sein.
Versammelnd den Atem, gelangend zur Weichheit,
So kannst ein Kind du sein.

Reinigend, läuternd den mystischen Blick,
Kannst ohne Mal du bleiben.
Schonend das Volk dein Land regierend,
Kannst ohne Tun du bleiben.

Die himmlischen Pforten geöffnet, geschlossen,
Kannst du zum Weibchen werden,
Erleuchtend die vier Enden der Welt,
Kannst unerkannt du sein auf Erden.

§24

Erzeuge da, hege das!

§118

Erzeugen, doch nicht besitzen;
Tun, doch nicht drauf baun;
Leiten, doch nicht beherrschen –
Dies nennt man Mystische Tugend.

Kapitel 11

§25

Der Speichen dreimal zehn
Auf einer Nabe stehn.
Eben dort, wo sie nicht sind,
Ist des Wagens Brauchbarkeit.

Man knetet Ton zurecht
Zum Trinkgerät:
Eben dort, wo keiner ist,
Ist des Gerätes Brauchbarkeit.

Man meißelt Tür und Fenster aus
Zur Wohnung.
Eben dort, wo nichts ist,
Ist der Wohnung Brauchbarkeit.

Wahrlich:
Erkennst du das Da-Sein als einen Gewinn,
Erkenne: Das Nicht-Sein macht brauchbar.

Kapitel 12

§26

Die Fünf Farben
Machen das Auge der Menschen blind;
Die Fünf Töne
Machen das Ohr der Menschen dumpf;
Die Fünf Geschmäcke
Machen den Mund der Menschen stumpf.
Wagenrennen und Jagden
Machen den Sinn der Menschen toll;
Schwer erlangbares Gut
Macht ihren Wandel bürdevoll.

§27

Deshalb, der Heilige Mensch
Tut für den Bauch,
Nicht für das Aug.

§28

Wahrlich:
Von jenem laß! Dieses erfaß!

Kapitel 13

§29

»Gunst und Schande sind gleichsam ein Stachel.
Ehrung ist ein großes Leiden wie Dein Leib.«

Was heißt:
»Gunst und Schande sind gleichsam ein Stachel«
Gunst ist etwas [Hohes, Schande etwas] Niedriges.
Sie zu erlangen, ist gleichsam ein Stachel;
Sie zu verlieren, ist gleichsam ein Stachel.
Das heißt:
»Gunst und Schande sind gleichsam ein Stachel.«
Was heißt:
»Ehrung ist ein großes Leiden wie Dein Leib?«
Daß Wir große Leiden haben,
Ist, weil Wir einen Leib haben.
Wären Wir ohne Leib,
Was hätten Wir für Leid?

§30

Wahrlich:
Ehre wie den Leib so das Reich,
Und das Reich kann Dir anvertraut werden.
Schone wie den Leib so das Reich,
Und das Reich kann Dir überantwortet werden.

Kapitel 14

§31

Was du nicht siehst, so sehr du danach schaust,
Des Name ist: plan.
Was du nicht hörst, so sehr du danach lauschest,
Des Name ist: heimlich.
Was du nicht fängst, so sehr du danach greifst,
Des Name ist: subtil.
Diese drei kannst du nicht weiter erkunden;
Wahrlich, chaotisch sind sie zum Einen verbunden.
Sein Oben ist nicht hell,
Sein Unten ist nicht dunkel.
Unendlich ist es, nicht kann es benannt werden;
Zum Wesenlosen hat es heimgefunden.
Dies ist es, nicht kann es benannt werden;
Zum Wesenlosen hat es heimgefunden.
Dies ist es, was man heiß:
Die Gestalt des Gestaltlosen,
Das Bild des Wesenlosen;
Dies ist es, was man heißt:
Brauendes Ur-Glosen.
Wer ihm sich naht, kann keinen Kopf erblicken;
Und wer ihm folgt, erblickt nicht seinen Rücken.

§32

Halt fest am Weg des Altertums,
Und du lenkst das Sein der Gegenwart!
Zu wissen um des Altertums Beginn,
Das nennen wir des Weges leitenden Sinn.

Kapitel 15

§33

Wer im Altertum gut war als Meister,
War subtil, geheimnisvoll, mystisch, durchdringen;
So tief, daß er uns unbegreiflich bleibt.
Wohl! Und weil er unbegreiflich bleibt,
Will ich lieber dartun sein Gebaren:

§34

So zögernd, ach!
Wie wenn man winters quert einen Strom;
So ängstlich, ach!
Wie wenn man fürchtet die Nachbarn rings;
Verhalten, ach!
Als wäre zu Gast man geladen;
Nachgiebig, ach!
Wie vor der Schmelze das Eis;
Gediegen, ach!
Gleich einem Grobholz;
Weit, ach!
Gleich einem Flußtal;
Chaotisch, ach!
Gleich einem Strudel.

§35

Wer kann den Strudel stillen,
Auf daß er mählich werde rein?
Wer kann das Ruhende bewegen,
Auf daß es mählich Leben gewinne?

§36

Wer diesen Weg bewahrt,
Wünscht nicht, erfüllt zu sein.
Wohl! Nur was unerfüllt,
Kann auch verschleißen ohne Erneuen.

Kapitel 16

§37

Erreichend den First des Leeren
Bewahrend die Stille, die Stete –
Zusammen wirken die zehntausend Wesen:
So kann Ich betrachten ihr Wiederkehren.

§38

Denn blühn die Wesen üppig-bunt,
Kehrt jedes heim zu seinem Wurzelgrund.

§39

Heimkehren zum Wurzelgrund heißt: Stille finden.
Und dieses nennt man: sich zum Schicksal kehren.
Sich zum Schicksal kehren heißt: ewig sein.
Das Ewige kennen heißt: erleuchtet sein.

§40

Wer nicht das Ewige kennt,
Schafft sinnlos Unheil;
Wer das Ewige kennt, ist duldsam.
Duldsam ist aber: unbefangen;
Unbefangen ist aber: allumfassend;
Allumfassend ist aber: himmlisch;
Himmlisch ist aber: der Weg;
Der mit dem Weg aber dauert.
Sinkt hin sein Leib, ist er ohne Gefahr.

Kapitel 17

§41

Von den Allerhöchsten
Wissen die Niederen nur: Es gibt sie.
Die Nächsthohen liebt man und preist man;
Die Nächsten fürchtet man;
Die Nächsten verweist man.

§42

Wer nicht genug vertraut,
Dem ist man nicht treu.

Beim Ehren des Wortes, wie waren sie scheu!

War vollendet das Werk, vollbracht die Tat,
Meinten die hundert Geschlechter:
Wir schufen es frei.

Kapitel 18

§43

Wenn der Große Weg ist aufgegeben,
Gibt es »Menschlichkeit und Rechtlichkeit«.
Wenn Klugheit sich und Findigkeit erheben,
Ist auch das »Künstlich-Gute« nicht mehr weit.
Wenn die Sechs Blutsverwandten nicht in Einklang leben,
Gibt es die »Kindes-Ehrerbietigkeit«.
Regiert das Herrscherhaus in Zwist und Wahn,
Gibt es den »Lauteren Untertan«.

Kapitel 19

§44

Brich ab die Heiligkeit, verwirf die Klugheit!
So wird dem Volke Nutzen hundertfältig.
Brich ab die Menschlichkeit, verwirf die Rechtlichkeit!
So kehrt das Volk zu Kindgehorsam, Elternliebe.
Brich ab Geschicklichkeit, verwirf den Nutzen!
So finden keine Räuber sich und Diebe.

§45

Diese drei für Kultur zu nehmen, das reicht nicht aus.

§46

Wahrlich:
Gib ein Gebot, das bindend verpflichte!
Betrachte das Blanke, faß an das Schlichte!
Mach klein dein Eigen und karg deine Süchte!

Kapitel 20

§47

Brich ab das Lernen, so bist du sorgenfrei!

Sind denn »Jawohl!« und »Recht gern!«
Wirklich einander so fern?
Sind denn das Gute, die Schlechtigkeit
Wirklich einander so weit?
»Wem andere Menschen sich beugen,
Dem mußt auch du dich beugen«:
Welch Öde doch! Und kein Ende noch!

§48

Die Menschen alle sind ausgelassen,
Als säßen sie zechend beim Opferfest,
Als stiegen sie auf zu den Frühlingsterassen.
Ich allein liege noch still,
Kein Zeichen hab ich gegeben,
Gleich einem kleinen Kinde,
Das noch nie gelacht hat im Leben;
Bin schwankend, bin wankend,
Als hätt ich die Heimat verloren.
Die Menge der Menschen hat Überfluß;
Nur Ich bin gleichsam von allem entblößt.
Wahrlich, Ich habe das Herz eines Toren,
So dunkel und wirr!
Die gewöhnlichen Menschen sind hell und klar;
Nur Ich bin trübe verhangen.
Die gewöhnlichen Menschen sind strebig-straff;
Nur Ich bin bang-befangen.
Ruhelos gleich ich dem Meere;
Verweht, ach, bin gleichsam ich ohne Halt.
Die Menschen mach sich nützlich all,
Nur Ich bin halsstarr, als ob ich ein Wildling wäre.
Nur Ich bin von den andern Menschen verschieden –
Der ich die nährende Mutter verehre.

Kapitel 21

§49

Der tiefsten Tugend Gebaren,
Es folgt allein dem Wege.
Der Weg als ein Wesen
Ist ein Brauen, ein Glosen.
O Glosen, o Brauen!
Darin sind die Bilder.
O Brauen, o Glosen!
Darin sind die Wesen.
O Dunkel, versunken!
Darin sind die Samen.
Die Samen sind Wahrheit;
Darin ist die Treulichkeit.
Von alters bis heute
Ward sein Name nicht aufgehoben,
Um damit den Vater von allen Dingen zu deuten.
Und woher kenn Ich das Walten
Des Vaters von allen Dingen?
Durch dieses.

Kapitel 22

§50

Was krumm ist, wird heil gemacht;
Was gebeugt ist, wird aufgerichtet;
Was hohl ist, wird ausgefüllt;
Was zerschlissen, wird neu gemacht.
Mit wenigem wirst du bekommen;
Mit vielem bist du beklommen.

§51

Deshalb der Heilige Mensch:
Wenn er das Eine umfaßt,
Wird er zum Richtmaß dem Reich.
Weil er sich selbst nicht sieht,
Darum ist er erleuchtet;
Weil er sich selbst nicht recht gibt,
Darum ist er anerkannt;
Weil er sich selbst nicht aufspielt,
Darum hat er Verdienst;
Weil er sich selbst nicht rühmt,
Darum wird er erhöht.
Wohl! Eben weil er nicht streitet,
Darum vermag niemand im Reich,
Mit ihm zu streiten.

§52

Wenn die Alten sagten:
»Was krumm ist, wird heil gemacht«,
So sind das keine leeren Worte gewesen!

Zum wahrhaft Heilen kehrt man sich hin.

Kapitel 23

§53

Rede selten nur –
So will es die Natur.

§54

Wahrlich:
Ein Wirbelwind währt keinen Morgen;
Ein Regenguß währt keinen Tag.
Wer dieses macht, sind Himmel und Erde.
Wenn schon Himmel und Erde nicht vermögen,
Dauer zu geben,
Um wieviel weniger ist sie dem Menschen gegeben!

§55

Wahrlich:
Wer dem Wege folgt in seinen Geschäften,
Wird eins mit dem Wege;
Wer tugendhaft, wird eins mit der Tugend;
Wer sie verliert, wird eins mit dem Verlust.

Wenn einer eins wird mit dem Wege,
Freut sich desgleichen der Weg,
Ihn zu gewinnen;
Wenn einer eins wird mit der Tugend,
Freut sich desgleichen die Tugend,
Ihn zu gewinnen;
Wenn einer eins wird mit dem Verlust,
Freut sich desgleichen der Verlust,
Ihn zu gewinnen.

§42

(Wer nicht genug vertraut,
Dem ist man nicht treu.)

Kapitel 24

§56

Wer auf Zehen steht, der hält sich nicht;
Wer die Beine spreizt, der wandelt nicht.
Wer sich selber sieht, ist nicht erleuchtet;
Wer sich selber recht gibt, ist nicht anerkannt;
Wer sich selber aufspielt, hat kein Verdienst;
Wer sich selber rühmt, wird nicht erhöht.

§57

Auf den Weg übertragen, heißt das:
Zu viel der Speisen und prunkender Wandel
Sind den Geschöpfen allzumal ein Überdruß.

Wahrlich:
Wer den Weg hat, weilt nicht dabei.

Kapitel 25

§58

Ein Wesen gibt es chaotische Art,
Das noch vor Himmel und Erde ward,
So tonlos, so raumlos.
Unverändert, auf sich nur gestellt,
Ungefährdet wandelt es im Kreise.
Du kannst es ansehn als die Mutter der Welt.
Ich kenne seinen Namen nicht.
Ich sage Weg, damit es ein Beiwort erhält.

Und wenn ichs mit Mühe benennen soll,
Sag Ich: Das Große.
Großsein (dad) heißt: Sich Verlieren (djad);
Sich Verlieren heißt: Sich Entfernen;
Sich Entfernen heißt: Im Gegensinn gehn.

§59

Wahrlich:
Groß ist der Weg, groß der Himmel,
Groß die Erde, groß der König!
Vier Große gibt es in den Grenzen des Alls.
Der Mensch ist einer von ihnen.

Der Mensch nimmt zum Gesetz die Erde;
Die Erde zum Gesetz den Himmel;
Der Himmel zum Gesetz den Weg;
Der Weg nimmt zum Gesetz das eigene Weben.

Kapitel 26

§60

Das Schwere ist des Leichten Wurzelgrund;
Das Stille ist des Ungestümen Herr.

Deshalb:
»Ein Herrensohn, reist er auch tagelang,
Trennt sich von seinem Fuhrwerk nie, dem schweren.
Gibt es auch schimmernde Blicke rings,
Er bleibt am Platz, gelassen, unberührt.«

Wie dürfte dann ein Gebieter über zehntausend Kampfwagen
Um seiner selbst willen leicht nehmen das Reich?
Nimmt er es leicht, verliert er den Wurzelgrund;
Und ist er ungestüm, verliert er die Herr-schaft.

Kapitel 27

§61

Ein guter Fahrer ist ohne Wagenspur;
Ein guter Redner ohne falschen Zungenschlag;
Ein guter Rechner braucht keinen Rechenstab.

Ein gut Verschlossenes hat weder Bolzen noch Riegel,
Dennoch kann es nicht geöffnet werden;
Ein gut Geknüpftes hat weder Schnur noch Schlinge,
Dennoch kann es nicht gelöst werden.

§62

Deshalb der Heilige Mensch:
Ständig ist er gut, den Menschen zu helfen;
Darum gibt es keine verworfenen Menschen.
Ständig ist er gut, den Wesen zu helfen;
Darum gibt es keine verworfenen Wesen.
Dies nennt man die Doppelte Erleuchtung.

§63

Wahrlich:
Ein guter Mensch ist des Bösen Lehrer;
Der böse Mensch ist des guten Kapitel.
Wer nicht ehrt seinen Lehrer,
Wer nicht schont sein Kapital:
Er wäre noch so klug, er wäre höchst verblendet!
Dies nennt man das Wichtige Geheimnis.

Kapitel 28

§64

Erkennt eure Mannheit,
Bewahrt eure Weibheit!
So seid ihr dem Erdreich ein Quell.
Wer dem Erdreich ein Quell:
Ewige Tugend verläßt ihn nicht,
Heim kehrt er wieder zur Kindheit.

Erkennt eure Helle,
Bewahrt euer Dunkel!
So seid ihr dem Erdreich ein Maß.
Wer dem Erdreich ein Maß:
Ewige Tugend verfehlt ihn nicht,
Heim kehrt er zum Grenzenlosen.

Erkennt eure Würde,
Bewahrt eure Schande!
So seid ihr dem Erdreich ein Tal.
Wer dem Erdreich ein Tal:
Ewige Tugend hat der genug,
Heim kehrt er zum Groben und Schlichten.

§65

Wenn man das Grobholz zerteilt,
Werden Geräte daraus.
Wenn der Heilige Mensch sie gebraucht,
Werd er zum Leiter der Amtsleute.
Wahrlich:
Ein groß Gefügtes ist ungefeilt.

Kapitel 29

§66

Wenn einer begehrt, das Reich zu nehmen,
Um an ihm zu tun –
Ich sehe voraus, daß er scheitert.
Denn das Reich ist ein Geist-Gerät:
Es darf an ihm nichts getan werden.
Wer ihm antut, zerstört es,
Wer es festhält, verliert es.

§67

Wahrlich, die Wesen:
Bald gehn sie vor und folgen nach alsbald;
Nun ist ihr Atmen warm, nun ist ihr Keuchen kalt;
Nun sind sie stark und sind alsbald verkümmert;
Zermalmen bald und liegen bald zertrümmert.

§68

Deshalb, der Heilige Mensch
Weist ab das Ungemeine,
Weist ab das Vermessene,
Weist ab das Grandiose.

Kapitel 30

§69

Wer nach dem Wege beisteht einem Menschengebieter,
Wird nicht mit Waffengewalt das Erdreich niederschlagen:
Leicht träte dann der Umschwung ein.
Denn dort, wo Heere lagen,
Können nur Dornen und Disteln gedeihn;
Nach einer großen Schlacht
Folgen Jahre der Plagen.

§70

Ein guter [Feldherr] hat Erfolg,
Aber läßt es dabei bewenden.
Er wagt nicht, zu nehmen mit Gewalt.
Er hat Erfolg, aber rühme sich dessen nicht.

§128

(Wird ein Wesen fest, so wird es alt.
Dieses nennt man: Nicht dem Weg gemäß.
Nicht dem Weg gemäß wird enden bald.)

Kapitel 31

§72

(Wohl! Eben weil die Waffen Geräte des Unheils sind
Und die Wesen sie hassen,
Darum weilt, wer den Weg hat,
Nicht in ihrer Nähe.
Befindet sich der Edelmann daheim,
Hält er wert die Linke;
Gebraucht er die Waffen,
Hält er wert die Rechte.)

§71

Waffen sind Geräte des Unheils,
Keine Geräte des Edelmannns.
Nur wenn er nicht umhin kann, gebraucht er sie.
Friedliche Milde ist sein Höchstes.
Siegt er, so findet ers nicht schön.
Denn wer es schön fände,
Der freute sich, andere Menschen zu töten.
Wer aber sich freut, andere Menschen zu töten,
Darf seinen Willen dem Reiche nicht aufprägen.

§73

(Bei glücklichem Anlaß ist links der Ehrenplatz;
Bei traurigem Anlaß ist rechts der Ehrenplatz.
Der Nebenfeldherr steht auf der Linken,
Der Oberfeldherr steht auf der Rechten.
Dies will besagen: Er hält es wie beim Leichenbegängnis.
Wenn Menschen getötet sind in Menge,
Beklagt man sie voll Trauer und Verzweiflung:
Wer in der Schlacht gesiegt hat,
Der halte es wie beim Leichenbegängnis.)

Kapitel 32

§74

Der Weg ist ewig, namenlos.

Die Schlichtheit [des Namenlosen],
So gering sie sei –
Das Erdreich wagt nicht, sie dienstbar zu machen.
Könnten die Fürsten und Könige dieses bewahren,
Kämen die zehntausend Wesen von selbst zu Gast;
Himmel und Erde würden sich vereinen,
Um süßen Tau hinabzusenden,
Und das Volk wäre einträchtig ohne Befehl.

§75

Erst wenn verfügt wird, gibt es Namen.

Nachdem wir einmal mit Namen benennen,
Wohl! so müssen wir Einhalt kennen.
Wer Einhalt kennt, kann ungefährdet bleiben.

§76

Wenn du vergleichen willst
Des Weges Dasein in der Welt:
Er gleicht dem Bach, dem Talfluß,
Die strom- und meerwärts treiben.

Kapitel 33

§77

Wer die Menschen kennt, der ist klug;
Wer sich selber kennt, ist erleuchtet.
Wer andere Menschen besiegt, hat Gewalt;
Wer sich selbst besiegt, der ist stark.

Wer Genügen kennt, der ist reich;
Wer vorgeht mit Gewalt, der hat Willen.
Wer seinen Platz nicht verliert, der dauert;
Wer stirbt, ohne zu vergehn, lebt immerdar.

Kapitel 34

§78

Der Große Weg ist überströmend so,
Daß er nach links und rechts sich wenden mag.
Die Wesen alle danken ihm ihr Leben,
Ohne daß er sich einem versagt.
Er wirkt, doch legt sein Werk nicht in Beschlag.

§79

Er kleidet und ernährt alle Wesen,
Aber macht sich nicht zum Gebieter.
Weil ewig ohne Begehren,
Kann er durch Kleines benamt werden.
Weil alle Wesen ihm sich zuwenden,
Ohne daß er sich zum Gebieter macht,
Kann er durch Großes benamt werden.
Weil er niemals sich selbst für groß nimmt,
Darum kann er vollenden seine Größe.

Kapitel 35

§80

Hältst du das Große Bild in Händen,
Wird sich das Erdreich zu dir wenden.
Sich zu der wenden und frei sein von Leid –
Friede, Gleichheit, All-Einigkeit!

§81

Klang von Musik und Wohlgeruch der Speisen:
Die Fremden hält es, die vorüberreisen.
Doch was der Weg an Worten bietet dar,
Ist ohne Duft und Köstlichkeit dem Munde.
Wer es erblickt, den dünkt es unscheinbar;
Wer es vernimmt, nimmts nur mit Mühe wahr;
Wer es gebraucht, kommt aber nie zum Grunde.

Kapitel 36

§82

Was du willst zwängen,
Mußt vorher du längen.
Was du willst schwächen,
Mußt vorher du stark machen.
Wen du willst aufgeben,
Den mußt du hinaufheben.
Von wem du willst haben,
Den mußt du begaben.

§83

Dies wird Subtile Erleuchtung genannt:
Das Weiche, Schwache besiegt
Des Harten und Starken Widerstand.

§84

[Jedoch:]

Nie darf der Fisch
Hinauf aus seinem Grunde steigen.
Des Landes wirksamstes Gerät
Darf man den Menschen nicht zeigen.

Kapitel 37

§85

Der Weg ist ewig ohne Tun;
Aber nichts, das ungetan bliebe.

Könnten die Fürsten und Könige dieses bewahren,
Würden die zehntausend Wesen von selbst sich entfalten.
Würde sie aber, entfalte, zu handeln begehren:
Durch die Schlichtheit des Namenlosen
Müßten Wir ihnen dann wehren.
Die Schlichtheit des Namenlosen,
Wohl! sie führt zum Ohne-Begehren.
Nicht-Begehren wird in Stille münden,
Und das Reich wird selbst zur Ordnung finden.

Zweites Buch

Kapitel 38

§86

Höchste Tugend weiß von der Tugend nicht;
Daher gibt es die Tugend.
Nieder Tugend läßt von der Tugend nicht;
Daher mangelt die Tugend.

Höchste Tugend ist ohne Tun;
Ist auch ohne Grund, warum sie täte.
Nieder Tugend tut,
Hat auch einen Grund, warum sie tut.

Höchste Menschlichkeit tut,
Aber ohne Grund, warum sie tut.
Höchste Rechtlichkeit tut,
Doch mit einem Grund, warum sie tut.

Höchste Sittsamkeit tut;
Und wenn ihr niemand erwidert,
Zwingt sie die andern mit aufgekrempelten Ärmeln.

§87

Wahrlich:
Wer den Weg verliert,
Ist nachher tugendhaft.
Wer die Tugend verliert,
Ist nachher gerecht.
Wer die Rechtlichkeit verliert,
Ist nachher sittsam.

§88

Wohl!
Die Sittsamkeit
Ist eine Verkümmerung von Lauterkeit und Treue;
Des Haders Anfang ist sie.
Vorkenntnis
Ist eine prangende Blüte des Weges,
Aber der Torheit Beginn.

§89

Deshalb der große, gereifte Mann:
Hält sich an das Völlige
Und verweilt nicht beim Kümmerlichen;
Hält sich an den Kern
Und verweilt nicht bei der Blüte.

Wahrlich:
Von jenem laß! Dieses erfaß!

Kapitel 39

Denen vorzeiten ward Einheit verliehen:

Dem Himmel ward Einheit verliehn
Und damit die Reine.
Der Erde ward Einheit verliehn
Und damit die Stille.
Den Geistern ward Einheit verliehn
Und damit die Seele.
Dem Flußtal ward Einheit verliehn
Und damit die Fülle.
Den zehntausend Wesen ward Einheit verliehn
Und damit das Leben.
Dem Fürsten, dem König ward Einheit verliehn,
Um Ordnung dem Erdreich zu geben.

Was dieses bewirkt hat, ist die Einheit.

Fehlte dem Himmel, wodurch er rein,
Er würde gewißlich zerreißen.
Fehlte der Erde, wodurch sie gestillt,
Sie würde gewißlich zerspleißen.
Fehlte den Geistern, wodurch sie beseelt,
Sie würden gewiß sich entwinden.
Fehlte dem Flußtal, wodurch es gefüllt,
Es würde gewißlich schwinden.
Fehlte den zehntausend Wesen, wodurch sie belebt,
Sie würden gewißlich verenden.
Fehlte dem Fürsten, dem König, wodurch sie geehrt und erhöht,
Sie würden zum Sturze sich wenden.

§91

Wahrlich: Ehre hat zur Wurzel die Geringheit,
Hoheit zum Sockel die Niedrigkeit.
Deshalb heißen die Fürsten und Könige sich selbst:
Ich Waise, Meine Kärglichkeit, Meine Unzulänglichkeit.
Ist dieses nicht, weil sie zur Wurzel die Geringheit nehmen?

§92

Wahrlich:
Wer allzu hochfahrend ist,
wird wenig hoch fahren.

Und:
Wünsche nicht zu funkeln gleich einem Juwel,
Zu klingeln gleich einem Klangstein!

Kapitel 40

§93

Im Gegensinn verläuft des Weges Bewegung;
In seiner Schwäche liegt des Weges Brauchbarkeit.

§94

Aus dem Sein sind die zehntausend Wesen geboren;
Das Sein ist aus dem Nichtssein geboren.

Kapitel 41

§95

Ein Meister hohen Grades, der vom Wege hört,
Wandelt ihn gewissenhaft.
Ein Meister mittleren Grades, der vom Wege hört,
Befolgt ihn einmal und verläßt ihn ein andermal.
Ein Meister niederen Grades, der vom Wege hört,
Verlacht ihn lauthals.

Was keiner verlacht,
Ist würdig nicht, daß man zum Weg es macht.

§96

Darum heißt es in den stehenden Worten:

Den Weg erleuchten gleicht der Dunkelheit;
Den Weg vorangehn scheint wie Rückwärtsschreiten;
Den Weg plan machen scheint Unebenheit.

Die höchste Tugend gleicht dem Tal;
Der größte Glanz ist gleichsam Schande,
Weiteste Tugend scheinbar schmal.

Festeste Tugend dünkt dich unscheinbar;
Die volle Wahrheit ist wie schwindend;
Ein großes Viereck ist der Winkel bar.

Ein groß Gerät wird spät vollendet;
Ein großer Ton klingt selten bloß;
Ein großes Bild ist ohne Formen;
Der Weg verbirgt sich und ist namenlos.

§97

Wohl! Nur der Weg
Ist gut im Ausleihn und vollenden.

Kapitel 42

§98

Der Weg schuf die Einheit.
Einheit schuf Zweiheit.
Zweiheit schuf Dreiheit.
Dreiheit schuf die zehntausend Wesen.
Die zehntausend Wesen
Tragen das dunkle Yin auf dem Rücken,
Das lichte Yang in den Armen.
Der Atem des Leeren macht ihren Einklang.

§99

Was die Menschen verabscheun,
Ist Verwaistheit, Kargheit und Unzulänglichkeit:
Doch König und Fürst bezeichnen sich selber so.
Wahrlich, die Wesen:
Manch einer mindert sie – sie werden mehr;
Manch einer mehrt sie – doch sie mindern sich.

§100

Was die Menschen lehren,
Das lehre auch Ich.
Das Balkenstarke stirbt keinen guten Tod.
Die wollen Wir zum Vater unserer Lehre nehmen.

Kapitel 43

§101

Das Allerweichste der Welt
Holt im Rennen das Allerhärteste ein:
Ins Lückenlose dringt, was ohne Sein.

§102

Daran erkennen Wir:
Was ohne Tun ist, wird mehr.
Nicht redend lehren,
Ohne Tun sich mehren
Wird auf der Welt nur selten erreicht.

Kapitel 44

§103

Rum oder Leib – was steht dir näher?
Leib oder Gut – welches zählt mehr?
Gewinnen oder Verlieren – welches macht Pein?
Darum:
Wer allzu sorgsam spart, wird groß vergeuden;
Wer viel sich häuft, in Fülle büßt der ein.

§104

Wer Genügen kennt, bleibt ohne Schande;
Wer Einhalt kennt, ist ohne Gefahr.
So kann er dauern und bleibt immerdar.

Kapitel 45

§105

Ein groß Vollendetes scheint voll von Rissen,
Doch im Gebrauch bleibt es unverschlissen.
Ein groß Gefülltes scheint wie leer,
Doch im Gebrauch gibts unendlich her.

Ein groß Aufrechter scheint wie krumm;
Ein großer Könner scheint wie dumm;
Ein großer Redner stockt wie stumm.

§106

Durch Ungestüm besiegt man die Kälte;
Durch Stillsein besiegt man die Hitze.
Durch Reinheit und Stille
Machst du das Erdreich recht.

Kapitel 46

§107

Wenn das Erdreich den Weg hat,
Stell man das Rennpferd zum Dunggeben ein.

Wenn das Erdreich nicht den Weg hat,
Züchtet man Kriegspferde selbst in der Vorstadt.

§108

Kein Frevel größer,
Als seinen Wünschen nachzugeben.
Kein Übel größer,
Als nicht Genügen kennen.
Kein Makel größer,
Als nach Gewinn zu streben.

Wahrlich:
Wer Genügen kennt am Genügenden,
Wird ständig genug haben.

Kapitel 47

§109

Ohne das Tor zu verlassen,
Kannst du das Erdreich erfassen;
Ohne durchs Fenster zu spähn,
Den Weg des Himmels sehn.
Je weiter wir hinausgegangen,
Desto geringer wird unser Verstehn.

§110

Deshalb der Heilige Mensch:
Ohne zu wandeln, versteht er;
Ohne zu sehn, benennt er;
Ohne zu tun, vollendet er.

Kapitel 48

§111

Betreibe das Lernen:
So mehrst du dich täglich.
Betreibe den *Weg:
So minderst du dich täglich.
Mindern und abermals mindern
Führt dich zum Ohne-Tun.

Bleib ohne Tun –
Nichts, das dann ungetan bliebe.

§112

Nimmst du das Reich, sei ständig ohne Geschäft!
Denn wer beschäftigt ist,
Ist unzulänglich, das Reich zu nehmen.

Kapitel 49

§113

Der Heilige Mensch ist ohne beständigen Sinn:
Den Sinn der hundert Geschlechter
Macht er zu seinem Sinn.
»Zu den Guten bin Ich gut.
Zu den Unguten bin Ich auch gut.»
So empfängt er Güte.
»Den Treuen vertraue Ich.
Den Ungetreuen vertraue Ich auch.«
So empfängt er Vertrauen.

§114

Der Heilige Mensch weilt im Reich voll Ängstlichkeit.
Um des Reiches willen macht er verworren seinen Sinn.
Die Hundert Geschlechter richten auf ihn Aug und Ohr.
Der Heilige Mensch begegnet allen wie Kindern.

Kapitel 50

§115

Austritt ist Leben, Eintritt ist Tod.

§116

Des Lebens Begleiter sind dreizehn.
Des Todes Begleiter sind dreizehn.
Die tödlichen Stellen in des Menschen Lebensregung
Sind ebenfalls dreizehn.
Und was der Grund?
Er lebt sein Leben zu völlig.

Denn ich habe gehört:
Wer es versteht, sein Leben zusammenzuhalten,
Der wandelt über Land und trifft nicht Nashorn noch Tiger;
Der tritt in die Schlacht und trägt nicht Panzer noch Waffen:
Das Nashorn findet nicht, worein das Horn zu stoßen;
Der Tiger findet nicht, worein die Klaue zu schlagen;
Die Waffe findet nicht, worein die Klinge zu bohren.
Und was der Grund?
Er ist ohne tödlich Stellen.

Kapitel 51

§117

Der Weg erzeugt;
Die Tugend hegt;
Die Wesen formen;
Die Macht vollendet.

Darum ist unter den zehntausend Wesen keines,
Das nicht den Weg achtet und die Tugend ehrt.
Den Weg zu achten, die Tugend zu ehren,
Wohl! keiner hat es befohlen;
Ewig geschieht es von selbst.

Wahrlich:
Der *Weg erzeugt sie;
Die Tugend hegt sie,
Leitet und pflegt sie,
Vermehrt sie,
stützt sie,
Nährt sie, beschützt sie.

§118

Erzeugen, doch nicht besitzen;
Tun, doch nicht drauf baun;
Leiten, doch nicht beherrschen–
Die nennt man Mystische Tugend.

Kapitel 52

§119

Das Erdreich hat einen Anbeginn:
Er sei des Erdreichs Mutter genannt.
Wer einmal seine Mutter fand,
Hat sich als ihren Sohn erkannt.
Wer einmal sich als Sohn erkannt,
Wird treuer noch die Mutter wahren.
Sinkt hin sein Leib, ist er ohne Gefahren.

§120

Wer seinen Zugang sperrt
Und seine Pforten schließt,
Des Leib ist ohne Mühsal bis zum Ende.
Wer seinen Zugang öffnet
Und fördert seine Werke,
Des Leib ist ohne Rettung bis zum Ende.

§121

Kleinstes sehen heißt:
Erleuchtung.
Weichheit wahren heißt: Stärke.
Wer seinen Glanz gebraucht,
Um zur Erleuchtung heimzufinden,
Der büßt nichts ein, trifft Unheil seinen Leib.
Dies nennt man: Sich dem Ewigen verbinden.

Kapitel 53

§122

Gesetzt, Ich hätte wenig Wissen nur
Und wandelte den Großen Weg:
Ich würde nichts fürchten, als abzuweichen.
Denn der Große Weg ist völlig plan;
Nur, das Volk liebt die Saumpfade.

§123

Ist der Palast voll Prunk gebaut,
Doch die Felder voll von Kraut;
Sind die Scheunen völlig leer,
Doch die Kleider farbig-fein,
Gürtet man ein scharfes Schwert,
Ist man satt der Schwelgerein;
Hat man Überfluß an Geld und Gut –
Nenn ich das: Banditen-Übermut.
Solches kann der Weg nicht sein!

Kapitel 54

§124

Was gut gepflanzt ist, wird nicht ausgereutet;
Was gut umhüllt ist, wird nicht ausgebeutet.
So wird der Opferdienst von Sohn und Enkel
Ohn' Unterbrechen ausgebreitet.

§125

Wenn du dies pflegst für dich allein,
Wird deine Tugend wahrhaft sein.
Wenn du dies pflegst bei dir zu Haus,
Breitet sich deine Tugend aus.
Wenn du dies pflegst am Heimatort,
Wächst deine Tugend fort und fort.
Wenn du dies pflegst im ganzen Land,
Blüht deine Tugend unverwandt.
Wenn du die pflegst im ganzen Reich,
Dient deine Tugend allen gleich.

Wahrlich:
Am eigenen Selbst bemißt man anderer Selbst;
Am eignen Haus bemißt man die Häuser;
Am eigenen Ort bemißt man die Orte;
Am eigenen Land bemißt man die Länder;
Am Reich bemißt man das Erdreich.
Und woher wissen Wir, wie das Erdreich ist?
Durch dieses.

Kapitel 55

§126

Die Völligkeit dessen, der Tugend in sich versammelt,
Gleicht der eines neugeborenen Kindleins.
Bienen, Skorpione, Vipern und Schlangen beißen es nicht;
Wilde Tiere schlagen es nicht;
Raubvögel reißen es nicht.
Seine Knochen sind schwach, seine Sehnen weich,
Dennoch ist fest sein Griff.
Es weiß noch nicht von Mannes und Weibes Vereinigung,
Dennoch zeigt sich sein Glied:
Das ist der Samenkraft Gipfel.
Den ganzen Tag schreit es,
Dennoch wird es nicht heiser:
Das ist der Gipfel natürlichen Einklangs.

§127

Den Einklang kennen heißt: Ewig sein.
Das Ewige kennen heißt: Erleuchtet sein.
Das Leben mehren heißt: Unheil beschwören.
Bewußt den Atem regeln heißt: Stärke (Starrheit) begehren.

§128

Wird ein Wesen fest, so wird es alt.
Dieses nennt man: Nicht dem Weg gemäß.
Nicht dem Weg gemäß wird enden bald.

Kapitel 56

§129

Ein Wissender redet nicht:
Ein Redender weiß nicht.

§130

[Der Heilige Mensch]
Versperrt seinen Zugang,
Verschließt seine Pforten,
Schabt ab seine Schärfen,
Löst auf seine Wirren,
Beschwichtigt sein Glänzen,
Vereint seinen Staub.
Dies nennt man Mystische Vereinigung.

§131

Darum ist er
Unerreichbar aller Vertrautheit,
Unerreichbar aller Zurückweisung,
Unerreichbar allem Nutzen,
Unerreichbar allem Schaden,
Unerreichbar aller Ehrung,
Unerreichbar aller Geringheit.

Darum ist er geehrt vor allen andern im Reich.

Kapitel 57

§132

Mit dem Rechten regiert man das Land;
Mit Ordnungswidrigem gebraucht man die Waffen;
Mit Ungeschäftigkeit nimmt man das Reich.

(Und woher weiß Ich, daß dem so ist?
Durch dieses.)

§133

Gibt es im Reich viel Hindrung und Verbot,
So wird das Volk nur ärmer werden.
Gibt es im Volk viel nützliches Gerät,
So wird das Herrscherhaus verstört.
Mehrt sich der Menschen Schläue und Geschick,
Kommt auf viel Ordnungswidrigkeit.
Je mehr Gesetz und Weisung man erläßt,
Desto mehr Räuber gibts und Diebe.

§134

Darum sagt der Heilige Mensch:

»Ich bin ohne Tun,
Und das Volk wird von selbst sich entfalten.
Ich liebe die Stille,
Und das Volk kommt von selber zur Ordnung.
Ich bin ohne Geschäftigkeit,
Und das Volk wird von selber reich.
Ich bin ohne Begehren,
Und das Volk wird von selber schlicht.«

Kapitel 58

§135

Wes Herrschaft bang-befangen,
Des Volk wird harmlos prangen;
Wes Herrschaft strebig-straff,
Des Volk wird arg und schlaff.

§136

Der Segen, ach! lehnt an das Unheil sich;
Das Unheil, ach! es kauert vor dem Segen.
Wer weiß, wo beider First gelegen?
Da Rechtes nicht noch Ketzerei vorhanden,
Verkehrt das Rechte sich in Widrigkeit
Und muß das Gute sich in Dämonie verkehren.
Daß blind der Menschen Blick,
Des Tage werden ewig währen!

§137

Deshalb, der Heilige Mensch
Ist vierkant, ohne zu schneiden;
Ist winkling, ohne zu stechen;
Ist aufrecht, ohne sich zu dehnen;
Ist glänzend, ohne zu blenden.

Kapitel 59

§138

Um die Menschen zu regieren
Um dem Himmel zu dienen,
Ist nichts so gut wie Geizen.
Wohl! Dieses Geizen bedeutet:
Sich frühzeitig unterziehen.
Sich frühzeitig unterziehen, heißt:
Die gespeicherte Tugend verdoppeln.
Wenn einer die gespeicherte Tugend verdoppelt,
Ist nichts, das er nicht zwingt.
Wenn nichts ist, das einer nicht zwingt,
So kennt niemand seinen First.
Wes höchsten First niemand kennt,
Der darf das Land haben.

§139

Wer des Landes Mutter hat,
Der kann ewig dauern.
Dieses nennt man:
Die Wurzel vertiefen und den Stamm festigen.
Das ist der Weg ewigen Lebens
Und dauernder Scham.

Kapitel 60

§140

Regier ein großes Land,
Als ob du brietest kleine Grundeln!

§141

Wenn nach dem Weg ist überwacht das Reich,
So werden die Dämonen nicht
Als Geister sich bekunden.
Nicht nur, daß die Dämonen sich
Als Geister nicht bekunden;
Es werden diese Geister
Die Menschen nicht verwunden.
Nicht nur, daß diese Geister
Die Menschen nicht verwunden:
Auch wird der Heilige Mensch
Die Menschen nicht verwunden.

Wohl! Wenn einander nicht verwunden beide,
Hat Tugend sich im Wechsel eingefunden.

Kapitel 61

§142

Ein großes Land soll sein wie Stromes Tiefebene,
Soll sein des Erdreichs Sammelbecken,
Des Erdreichs Weiblichkeit.
Ewig überwindet das Weibliche
Mit seiner Stille das Männliche.
In seiner Stille ist es das Niedrige.

Darum:
Wenn ein großes Land
Sich erniedrigt vor dem kleinen Lande,
Gewinnt es das kleine Land.
Weil das kleine Land
Niedrig ist vor dem großen Lande,
Gewinnt es das große Land.

Wahrlich:
Das eine erniedrigt sich,
Um dadurch zu gewinnen.
Das andere ist niedrig,
Und dadurch gewinnt es.

Ein großes Land begehrt nichts,
Als die Menschen einzuordnen und zu nähren.
Ein kleines Land begehrt nichts,
Als beizutreten und zu dienen.
Wohl!
Auf daß ein jedes von beiden erhält,
Was es begehrt,
Muß das große sich füglich erniedrigen.

Kapitel 62

§143

Der Weg ist der zehntausend Wesen Hort:
Der guten Menschen Schatz,
Der Bösen Zufluchtsort.

§144

Durch schöne Worte kannst
Du Würde dir erhandeln;
Kannst überbieten andere
Nur durch dein rechtes Wandeln.

(Selbst die Bösen unter den Menschen,
Warum sollte man sie verwerfen?)

§145

Wahrlich:
Erhebt man den Himmelssohn
Oder setzt die drei Großminister ein,
Auch wenn sie Jadetafeln in Händen tragen
Und ihnen vier Pferde vorangehn:
Besser wäre, sie säßen still,
Und kämen weiter auf diesem Wege.

Daß die Alten diesen Weg? verehrten,
Was war der Grund?
Sagten sie nicht:
Wer sucht, wird auf ihm finden;
Wer schuldig ist, wird auf ihm entkommen?
Darum ward er verehrt vor allem andern im Reich.

Kapitel 63

§146

Tun, was ohne Tun.
Schaffen, was ohne Geschäft.
Kosten, was ohne Köstlichkeit.
Nimm Großes für klein, Vieles für wenig!
Vergilt Groll mit Tugend!

§147

Schwieriges planen, solang es leicht;
Großes tun, solang es klein:
Die schwierigsten Werk der Welt
Sind sicher aus Leichtem gemacht;
Die größten Werke der Welt
Sind sicher aus Kleinstem gemacht.

§148

Deshalb der Heilige Mensch:
Bis ans Ende tut er nichts Großes.
Darum kann er vollenden seine Größe.

§149

Wohl!
Wer vorschnell Ja sagt, findet kaum Vertrauen;
Wer vieles leicht nimmt, hat viel Schwierigkeit.

§150

Deshalb der Heilige Mensch:
Gleichsam tut er sich schwer.
Darum bleibt er ohne Schwierigkeit bis ans Ende.

Kapitel 64

§151

Was friedlich ist, wird leicht gehalten;
Mit dem, was noch kein Zeichen gab, ist leicht zu schalten.
Was spröde ist, schmilzt leicht dahin;
Was subtil, wird leicht zerstreut.
Walte der Dinge, bevor sie da sind!
Regiere, was noch nicht im Widerstreit!

§152

Auch der gewaltigste Baum
War als Keimling fein wie Flaum.
Ein Turm von neun Stockwerken
Stieg aus einem Häufchen Erde hinan;
Eine Reise von tausend Meilen
Fängt unter deinem Fuße an.

§153

Wer etwas tut, zerstört es;
Wer etwas festhält, verliert es.

§154

Deshalb, der Heilige Mensch
Ist ohne Tun und darum ohne Zerstörung,
Ist ohne Festhalten und darum ohne Verlust.
Das Volk jedoch, wenn es ein Werk verfolgt,
Zerstört es ständig, wenns beinah vollendet ist.
Gib acht auf das Ende wie das Beginnen,
So kann dein Werk dir nicht mißlingen!

§155

Deshalb, des Heilige Mensch
Begehrt, nicht zu begehren;
Schätzt schwer erlangbare Güter nicht;
Lernt, nicht zu lernen;
Kehrt sich zu dem, woran die Menge vorübergeht.
So stützt er der zehntausend Wesen natürliches Weben,
Aber wagt nicht zu tun.

Kapitel 65

§156

Wer im Altertum gut war, des Weges zu walten,
Tat es nicht, damit das Volk erleuchtet würde,
Sondern, um es damit töricht zu halten.
Denn das Volk ist um so schwerer zu regieren,
Je größer seine Klugheit ist.

§157

Wahrlich:
Wer mit Klugheit herrscht im Land,
Ist seines Landes Dieb;
Wer nicht mit Klugheit herrscht im Land,
Ist seines Landes Glück.

Er, der die beiden [Möglichkeiten] kennt,
Hat auch ein festes Richtmaß gewonnen.
Ewig ein festes Richtmaß kennen,
Dies nennt man Mystische Tugend.

Die Mystische Tugend, wie tief, wie weit!
Wie gegensinnig den Wesen!
Doch erst danach gelangt man
Zum großen Gleichströmen.

Kapitel 66

§158

Was macht, daß Strom und Meer vermögen,
König zu sein den hundert Flußtälern?
Weil sie gut sind im Niedrigsein,
Darum vermögen sie,
König zu sein den hundert Flußtälern.

§159

Deshalb:
Wer dem Volk will über sein,
Stellt sich in seinem Wort ihm unter.
Wer dem Volk voran sein will,
Stellt sich mit seinem Selbst dahinter!

§160

Deshalb, der Heilige Mensch
Weilt oben, ohne das Volk zu belasten;
Weilt vorn, ohne dem Volk zu schaden.
Deshalb freut sich das Reich, ihn zu fördern,
Und wird seiner nicht müde.

Weil er nicht streitet,
Darum vermag niemand im Reich,
Mit ihm zu streiten.

Kapitel 67

§161

Im Reich sagt jeder, Mein Weg wäre groß,
Doch er gleiche nicht dem Herkömmlichen.
Wohl! Eben weil er groß,
Darum gleicht er nicht dem Herkömmlichen.
Und wenn er herkömmlich wäre,
Er wäre seit langem verkümmert.

§162

Wohl! Ich habe drei Kostbarkeiten,
Die ich mir halte und hüte.
Die erste heißt: Barmherzigkeit;
Die zweite heißt: Mäßigkeit;
Die dritte heißt: Nicht wagen, dem Reich voranzugehn.

Barmherzig – darum vermag ich, mutig zu sein;
Mäßig – darum vermag ich, großzügig zu sein;
Nicht wagend, dem Reich voranzugehn –
Darum vermag ich, Leiter zu sein den ›Geräten‹.

Doch heutzutage ist man mutig
Unter Verzicht auf Barmherzigkeit;
Ist man großzügig unter Verzicht auf Mäßigkeit;
Geht man voran unter Verzicht auf das Zurückstehn –
Das wird zum Tode führen!

§163

Wohl!
Wer mit Barmherzigkeit kämpft, der siegt;
Wer mit ihr sich schützt, der ist sicher.
Wen der Himmel will retten,
Mit Barmherzigkeit schützt er ihn.

Kapitel 68

§164

Wer gut als Ritter, ist nicht streitbar;
Ein guter Kämpfer wütet nicht;
Wer gut als Feindbezwinger, wird nicht handgemein;
Wer Menschen gut verwendet, stellt sich ihnen unter.

Dies nennt man: Tugend des Nicht-Streitens;
Dies nennt man: Macht der Menschen-Verwendung;
Dies nennt man: First der Himmels-Paarung.

Kapitel 69

§165

Beim Gebrauch der Waffen gibt es seit alters ein Wort: »Ich wage nicht, den Hausherrn zu machen, Sondern mache den Gast; Ich wage nicht, um eine Daumenbreite vorzurücken, Sondern weiche eine Fußbreit zurück.«

Dies nennt man: Vorgehn auch ohne Vorgehn, Ärmelaufrollen auch ohne Arm, Festhalten auch ohne Waffe, Angreifen auch ohne Feind.

§166

Kein Unheil größer, als ohne Feind zu sein. Ohne Feind kann ich verlieren Meine Kostbarkeit.

§167

Wahrlich: Wenn zwei die Waffe gegeneinander erheben, Wird der, der trauert, siegen.

Kapitel 70

§168

Mein Wort sind Sehr leicht zu verstehen Und sehr leicht auszuführen. Doch im ganzen Reich Vermag niemand, sie zu verstehen, Vermag niemand, sie auszuführen. Mein Wort hat einen Ahn, Mein Werk hat einen Herrn. Wohl! Nur weil man sich nicht kennt, Versteht man auch Mich nicht.

§169

Die Seltenen sind es, die Mich verstehn; Und die Mir folgen, sind angesehn.

§170

Deshalb der Heilige Mensch: Trägt am Leibe das härene Gewand, Aber am Herzen das Kleinod.

Kapitel 71

§171

Um sein Nichtwissen wissen
Ist das Höchste.
Um sein Wissen nicht wissen
Ist krankhaft.

§172

Wohl! Nenne das Kranke krank!
So nur bist du nicht krank.

Der Heilige Mensch ist nicht krank.
Er nennt das Kranke krank,
Deshalb ist er nicht krank.

Kapitel 72

§173

Erst wenn das Volk vor deiner Macht nicht bangt,
Hast du die größte Macht erlangt.

Enge nicht ein, worauf sie wohnen!
Mache nicht mühsam, wovon sie leben!
Wohl, nur wenn du sie nicht mühst,
Werden sie deiner nicht müde.

§174

Deshalb der Heilige Mensch:
Er kennt sich selbst,
Aber sieht sich nicht;
Er schont sich selbst,
Aber ehrt sich nicht.

Wahrlich:
Von jenem laß! Dieses erfaß!

Kapitel 73

§175

Mutig sein beim Wagen bedeutet Tod;
Mutig sein beim Nicht-Wagen bedeutet Leben.
Von diesen beiden
Bringt eines Nutzen, das andere Schaden.
Was der Himmel haßt,
Wer kennt den Grund davon?

§150

(Deshalb der Heilige Mensch:
Gleichsam tut er sich schwer.)

§176

Des Himmels Weg:
Er streitet nicht
Und ist dennoch gut im Siegen;
Er redet nicht
Und ist dennoch gut, Antwort zu geben;
Er ruft nicht auf,
Und dennoch kommt alles von selbst;
Sanft ist er
Und ist dennoch gut im Planen.

§177

Des Himmels Netz ist endlos weit;
So groß die Maschen –
Dennoch entgeht ihm nichts.

Kapitel 74

§178

Wenn das Volk nicht vor dem Tode bangt,
Warum es dann mit dem Tode schrecken?
Gesetz aber, man wirkte,
Daß das Volk ständig den Tod fürchtet,
Und sie täten Ordnungswidriges:
Wer von uns wagte, sie greifen und töten zu lassen?
Ständig ist ein Scharfrichter da, der richtet.
Statt des Scharfrichters zu richten,
Das hießet »statt des Zimmermanns hobeln«.
Wohl! Wenn einer statt des Zimmermanns hobelt,
Ists selten, daß er sich nicht die Hand verletzt.

Kapitel 75

§179

Wenn das Volk hungert, so darum,
Weil der Steuern, die seine Oberen verzehren,
Zu viel sind. Nur darum hungert es.
Wenn das Volk schwer zu regieren ist, so darum,
Weil seine Oberen tätig sind.
Nur darum ist es schwer zu regieren.
Wenn das Volk den Tod gering achtet, so darum,
Weil es dem Leben zu völlig nachgeht.
Nur darum achtet es den Tod gering.

§180

Wohl! Nicht zu haben,
Wodurch das Leben schätzenswert,
Ist besser, als das Leben wertzuschätzen.

Kapitel 76

§181

Wenn den Mensch geboren wird,
Ist er weich und schwach;
Wenn er stirbt,
Ist er fest und stark.
Wenn die zehntausend Wesen,
Wenn Gräser und Bäume wachsen,
Dann sind sie weich und saftig;
Doch wenn sie absterben,
Dann sind sie dürr und trocken.

Wahrlich:
Das Feste, Starke ist des Todes Begleiter;
Das Weich, Schwache des Lebens Begleiter.

§182

Deshalb:
Sind die Waffen stark, dann siegen sie nicht.
Sind die Bäume stark, dann werden sie gefällt.
Das Starke, Große liegt darnieder;
Das Weiche, Schwache ist hochgestellt.

Kapitel 77

§183

Des Himmels Weg, wie gleicht er dem Bogenspannen!
Was hoch ist, wird niedergedrückt;
Was tief ist, nach oben gezogen;
Was zu viel ist, wird vermindert;
Was unzureichend, wird aufgewogen.

So auch des Himmels Weg:
Er mindert das, was zu viel,
Und wiegt auf, was unzureichend ist.
Doch der Menschen Weg ist anders:
Sie mindern die, bei denen es nicht reicht,
Um es darzubringen denen, die zu viel haben.

§184

Wer ist imstande, sein Zu-Viel
Darzubringen dem Reiche?
Nur der, der den Weg hat.

§185

Deshalb der Heilige Mensch:
Er tut, aber baut nicht darauf:
Ist das Werk vollbracht, verweilt er nicht dabei.
Denn er wünscht nicht zu zeigen seine Trefflichkeit.

Kapitel 78

§186

Nichts auf Erden ist so weich und schwach
Wie das Wasser.
Dennoch, im Angriff auf das Feste und Starke
Wird es durch nichts besiegt:
Das Nicht-Sein macht ihm dies leicht.

§187

Schwaches besiegt das Starke;
Weiches besiegt das Harte.
Niemand auf Erden, der das nicht weiß,
Niemand, der ihm zu folgen vermag.

§188

Deshalb sagt der Heilige Mensch:

»Wer auf sich nimmt den Schmutz im Land,
Sei Herr des Flur- und Kornaltars genannt.
Wer Landes Unheil auf sich nimmt,
Der ist zum König des Erdreichs bestimmt.«

§189

Wahr Worte klingen
Oft wie Gegensinn.

Kapitel 79

§190

Wenn wir den größten Groll beschwichtigen,
Verbleibt des Grolls genug.
Wie stellen trotzdem wir
Uns mit den andern gut?

§191

Deshalb, der Heilige Mensch
Behält den linken Teil der Schuldverschreibung,
Aber treibt nicht ein von den Menschen:
Wer Tugend hat, obliegt der Schuldverschreibung
Wer tugendlos, obliegt der Schuld-Eintreibung.

§192

Des Himmels Weg ist ohne Günstlingsgeist,
Gibt ewig dem, der sich als gut erweist.

Kapitel 80

§193

Ein kleines Land! Ein Volk gering an Zahl!
Und gäb es dort Geräte zehnfach, hundertfach
Von Wirkung – mach, daß man sie nicht gebraucht!
Mach daß das Volk ernst nimmt den Tod
Und nicht auswandert in die Ferne!
Wohl gibt es Schiff und Wagen dort,
Doch keinen Grund, sie aufzunehmen.
Laß auch die Menschen finden heim zur Knotenschnur
Und sie gebrauchen.
Mach süß ihre Speise,
Schön ihre Kleider,
Friedlich ihr Wohnen,
Fröhlich die Lebensweise!
Man sieht von weitem wohl das Nachbarland,
Die Hähne sind, die Hunde noch zu hören;
Das Volk wird alt, und wenn sie sterben,
War dennoch keiner, der zum Nachbarn fand.

Kapitel 81

§194

Trauenswerte Worte sind nicht schön;
Schöne Worte sind nicht trauenswert.
Wer gut ist, disputiert nicht;
Wer disputiert, ist nicht gut.
Ein Wissender ist nicht gelehrt;
Ein Gelehrter nicht wissend.

§195

Der Heilige Mensch häuft nicht an.
Je mehr er für die Menschen tut,
Desto mehr hat er selbst.
Je mehr er den Menschen gibt,
Desto mehr wird ihm selbst zuteil.

§196

Des Himmels Weg:
Er nützt, ohne zu schaden.
Des Heiligen Menschen Weg:
Er tut, ohne zu streiten.