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author: niplav, created: 2016-11-20, modified: 2019-12-24, language: german, status: finished, importance: 1, confidence: fiction

Text about the experiences of one of the fastest man-made objects.

Platte

During the Pascal-B nuclear test, a 900-kilogram (2,000 lb) steel plate cap (a piece of armor plate) was blasted off the top of a test shaft at a speed of more than 66 kilometres per second (41 mi/s). Before the test, experimental designer Dr. Brownlee had estimated that the nuclear explosion, combined with the specific design of the shaft, would accelerate the plate to approximately six times escape velocity.

Wikipedia, “Operation Plumbbob”, 2016

Es war klar, dass etwas anders war. Obwohl der kühle Wind, trocken, strömend, über die Oberseite strich, lag eine Stimmung in der Luft, die keinen Zweifel daran ließ, dass die normale Struktur verrührt war, durcheinandergebracht, geschüttelt und dann wieder probabilistisch sortiert. Die Sonne war von Wolken verdeckt, meine Oberfläche wurde nicht so stark aufgeheizt wie an den Tagen vorher. Ich spürte, wie meine 4 drittelmeterlangen Stahlschäfte, in den Beton gedrillt, sich wie jeden Morgen ausdehnten, sich an artifiziellem Gestein entlangschoben, die Struktur des Grundes abtasteten. Gleichzeitig drückte sich der Boden um mich herum auseinander, keilte mich in sich ein, unfähig, mich zu zerdrücken, beschränkt nur auf den Versuch, auf das erfolglose Zielen einer Wirkung, meine Existenz als Teil, als Einschweißung seiner selbst in seinem Feind, durch Einengung wie ein Fremdkörper abgestoßen, unverrückbar. Ich war Olivenbaum und Schilfgras gleichzeitig, in den Boden eingerammt und zur selben Zeit dem Wind des Grundes unterworfen. Was Aesop zu dieser Parabel sagen wird, ist schon lange in den Urnen der Zeit veröffentlicht worden. Stampfende Maschinen, konzentrisch fließende Erdbeben, Asteoridenbesuche waren für mich höchstens Nervigkeiten. Das einem Menschen zu erklären ist fast unmöglich: Ein Baum kann es vielleicht noch verstehen, das Ort-sein, die Idee einer stationären Existenz. Völlig unbewegt zu sein, unbewegbar zu sein war keine Frage, und auch nicht Tatsache, es war einfach. Eine andere Möglichkeit gab es für mich zu dem Zeitpunkt nicht, Beschleunigung, Geschwindigkeit war undenkbar, Verrückung nicht logisch darstellbar. Und trotzdem war etwas anders. Einige Ameisen krochen über meine frische, gebürstete Oberfläche, das Tippen nur beim Nichtdaraufachten, beim Nebenbeispüren wahrnehmbar. An der Unterseite, wie immer, kühle, dunkle Luft, die in feinem Säuseln ein Gemisch aus Wind und Feuchtigkeit, winzigen Tropfen, an meine Unterseite warf, die den schon ahnbaren Rost verstärkte, sich langsam, aber sicher sogar am Edelstahl entlangfraß. Trotz des Gefühls der immanenten Bedrohung war ich nicht aufgeregt. Ich war unverrückbar, für Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte, nur langsam, korrodierend, bröckelnd zu zerstören, in den Rändern in winzige Fragmente zu zerlegen, im allgemeinen Fluss zu zersetzen. Ich war Teil der Erdoberfläche, einen Schacht verdeckend, der als Tor direkt in die Unterwelt zu gehen schien, diesen verschließend vor allem, was aus ihm herauskommen wollte. Ich war entstanden in dickflüssigem, harzigem Feuer, als orangener Stahlembryo, gegossen und abgekühlt, von lästigen, blätternden Schichten befreit, von gigantischen Maschinen von außen abgebürstet, so robust, dass kein Lebewesen mir mit seiner Kraft wirklich schaden könnte. Ich war nicht nur Teil des Ortes, ich war der Ort, im Teil und im Ganzen, begriffsweise und metaphorisch.

Das Donnern, Rumpeln, dann merkwürdigerweise ein schrilles Pfeifen kam so plötzlich wie ein Schwall kochenden, brodelnden Wassers, der vom Himmel in eine Menschenmenge fällt, und ein Tier, mit glühend heißen Zähnen, mit vor Hitze blubbernden Krallen, wahnsinnig fauchend, sich mit aller Macht, mit aller Kraft an meine Unterseite pressend, tobend, alles in mich schlagend, sich in mein Innerstes schmelzend, reißend und aufbrechend, Organe suchend, imaginäre Eingeweide zersetzend, zerfetzend, Gnade als Nichtbegriff, Schonung nicht einmal ein entfernter Gedanke, Erinnerung an qualvolle Geburten, ein Gepresstwerden, in eine Fassung Hineingegossenwerden, wieder irres Tropfen, ein Zerlaufen des Ich, ein erneutes in die Stahlgebärmuttergeworfenwerdens. Die Wucht, Macht, Wut, Kraft wütete unter der Erde, versuchte, den künstlichen Berg zu sprengen, sich freizuwüten, und ich spürte, wie Luft über Stellen meines Zylinders strich, die vorher nicht freigelegen hatten, dass der Beton gebrochen war, und die Erde, der Boden schleuderte mich von sich weg, mein alter Feind, mein Widersacher, der mich nebenbei zu zerstören versucht hatte, hatte jetzt endlich in einem wahnsinnigen Kraftakt gesiegt, sich mit dem irren Tier verbündet, um mich loszuwerden, mich davonzustoßen, obwohl wir doch im Jahrhunderttod einander in den Armen lagen, und das hier völlig unnatürlich war, zu schnell, aber der Grund hatte mich ejakuliert, durch eine zerrende, unbarmherzige Luft

Erneute Geburt, erneutes postnatales Schreien, nun eine Taufe im Unsichtbaren, im ehemaligen Wind, im damaligen Orkan, am Altar der Atmosphäre, durch den Priester des nahen Alls, Pfeifen, langsam (was hieß aber hier langsam, da die Wahrnehmung verzerrt war, durch ein Reiben an erkaltendem Sturm), waren meine Welt, für diese Einbettung in einen neuen Kosmos, keine feste Oberfläche, als rasendes Geschoss in einer brausenden Kakaphonie, ein wirbelndes Drehen, das sich in oberen Schichten verlangsamte, und das eigene Zerlaufen, die bedrohliche Reibung, die Manifestation auflösend, wurde abgelöst durch eine Kälte, die wiederum schnell zu einem leeren Nichts wurde, und die bedrohliche Luft, eine Gefahr für den Stahlkörper, wurde eine vakuumistische Umgebung, in der langsam der Rest Wärme abgegeben wurde, während sich Hitze, Luft, Kälte, Anwesenheit von Zuständen im allgemeinen ihre Nähe und Bedeutung verloren und Erde, Erdoberfläche und Heimat, Zukunft und Vergangenheit wie auf einem Gummiband, das auseinandergezogen wird, sich genauso entfernten wie ich.

Es ist noch nicht so lange her, dass ich von meinem Wesen, meinem gleichzeitigen Feind weggeschleudert wurde. Seitdem rotiere ich, vom Sternnadellicht beschossen, durch die enthalpieentziehende Leere, verbrannt, halb geschmolzen, dann wieder erstarrt, erkaltet. Über die Jahre habe ich, die geringen Reize deutlicher wahrnehmend, gemerkt, dass es nicht nur Licht gibt. Anfangs waren es eher Ahnungen, mikroskopische Stromschläge, die durch meine vernarbte Oberfläche jagten, um sich gleich wieder zu verneinen, auf ein Fühlen, ein Tasten hin zu verstecken. Später wurden die Ahnungen zu Gewissheiten, die Andeutungen zu Wahrnehmungen, und Jahre später kann ich nun das gesamte Spektrum abschätzen, es von oben überblicken.

Die Signale sind unglaublich-auf manchen Frequenzen ein exaktes Pulsieren, ein präzises interstellares Metronom, dass im Takt des Hitzetods tickt, dann wieder auf anderen Wellenlängen Beschuss mit einer gewaltigen Ladung Strahlung, aus einer bestimmten Richtung kommend, Abschiedsworte sterbender Sterne, auf meine Oberfläche aufplatschend, kaskadenartig Zittern induzierend. Signale mit Struktur, klar menschlich, aber mit den Jahrzehnten immer schwächer werdend, in der tiefen klaren Dunkelheit versinkend wie eine alte Feder in Tinte. Und andere, sicher künstliche Signale, so bizarr, anders, schockierend, verstörend und beeindruckend, dass sie nur im Werden ertragbar sind, nur im langsamen realisieren ihrer Echtheit, und dass sie nicht nur Ausgeburt eines wahnsinnigen Poeten sind, der von fernen Planeten mit Sümpfen aus hellgelbem Schleim träumt, von kugelförmigen Ozeanen, die um fremde Doppelsonnen kreisen. Dahinter regiert der Zufall, der auf allen Sendern vorherrscht, und den Sinn mit blindem Trommeln auf dem elektromagnetischen Spektrum zu übertönen versucht, in blindem Hass auf den Sinn, voller Eifersucht auf Struktur, Bedeutung zu zerstören versuchend. Und, hinter allem, ein tiefes, langsames Rauschen, das wie das Dröhnen eines Basses, wie das Schlagen von milliarden atavistischen Trommeln die unerträgliche Stille, das gigantische Nichts des Weltraumes vertreibt und in den Käfig des unbewussten Wahrnehmens sperrt. So fliege ich, ohne Orientierung, sehr langsam, durch RAUM, der sich um mich herum bildet, um gleich hinter mir zu verschwinden, die Kulisse nur spärlich, von einem Amateur aufgebaut, bereit, heruntergerissen zu werden und der Abwesenheit von Materie, Raum und Zeit Platz zu machen.